Cover
Titel
„Stets korrekt und human“. Der Umgang der westdeutschen Justiz mit dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma


Autor(en)
Opfermann, Ulrich Friedrich
Reihe
Antiziganismusforschung interdisziplinär
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 574 S.
Preis
€ 63,00 (Hardcover), € 45,00 (Softcover)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Lotto-Kusche, Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History, Europa-Universität Flensburg

Die zu besprechende Studie ist mit einem vielschichtigen Cover-Bild versehen, das selbst eine komplexe Quelle darstellt. Es gibt eine Fotografie der 24 Mitarbeitenden der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ vom Mai 1942 wieder, die sich für ein Erinnerungsbild im Treppenhaus des Reichskriminalpolizeiamtes am Werderschen Markt 5/6 in Berlin aufgestellt haben. Der Autor Ulrich Friedrich Opfermann erläutert die Sozialstruktur der Personen auf dem Bild, ebenso erwähnt er das dort erkennbare Hakenkreuz-Geländer (S. 3–5). Er versäumt es aber, den Kontext genauer zu benennen. Die Fotografie ist im Landesarchiv Berlin in einer Ermittlungsakte aus der Zeit nach 1945 überliefert – auf dem Bild sind einige Personen mit einer unterschiedlichen Zahl von Kreuzen und sonstigen Markierungen versehen. Es bleibt im Ungewissen, was die Kreuze zu bedeuten haben und wie das Bild in die Akte gelangt ist.

Opfermanns Studie basiert in Teilen auf seinem Gutachten für die vom Deutschen Bundestag 2019 eingesetzte Unabhängige Kommission Antiziganismus. Diese Expertise fand schließlich Eingang in den Abschlussbericht der Kommission, der die bislang umfassendste Untersuchung zum Antiziganismus in der Bundesrepublik darstellt.1 Opfermann hat seine Synthese noch erweitert; nun liegt sie in einer umfangreichen Buchfassung und einer frei zugänglichen Onlinefassung vor. Die Studie will etwas äußerst Anspruchsvolles leisten: Der Autor stellt sich der Herausforderung, erstmals einen belastbaren Überblick zu allen juristischen Verfahren gegen Täter:innen der NS-Verfolgung von Sinti und Roma in der Bundesrepublik zu schaffen. Dieses Vorhaben ist deshalb so schwierig, weil es extrem komplex ist, die Verfahren zu ermitteln, in denen Tatvorwürfe von Verbrechen gegen Sinti und Roma erwähnt beziehungsweise in der Anklage, im Prozess oder im Urteil berücksichtigt wurden.

Der Autor selbst schätzt die Zahl der infrage kommenden Verfahren auf mehrere Hundert, wobei er in seiner Studie 151 Verfahren auswertet (S. 454–503). Noch von den Alliierten wurden in sechs Verfahren insgesamt 25 Personen für Verbrechen an Roma angeklagt. Von diesen Personen wurden zwei freigesprochen, ein Verfahren wurde eingestellt, zwei Personen erhielten die Todesstrafe, die jedoch nur in einem Fall vollstreckt wurde. Die restlichen Angeklagten erhielten teilweise empfindliche Haftstrafen. Die Verurteilten wurden jedoch – mit einer Ausnahme – bis 1953 alle begnadigt. In den westdeutschen Ermittlungen identifiziert Opfermann insgesamt 323 Beschuldigte, deren Verfahren in 145 Fällen eingestellt wurden und in 48 Fällen mit einem Freispruch endeten. Die übrigen Angeklagten erhielten Haftstrafen. Seit den 1970er-Jahren waren Haftstrafen in Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (NSG-Verfahren) die absolute Ausnahme – und aufgrund von Verbrechen an Roma erhielt niemand eine Strafe. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erwirkte nach seiner Gründung im Jahr 1982 zwar noch 30 Verfahren, doch kam es nur in einem Prozess zu einer Verurteilung (S. 128–133). So sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Zwei Drittel der von Opfermann betrachteten 151 Fälle endeten mit Freispruch oder Verfahrenseinstellung (S. 431–434).

Neben den nackten Zahlen sind insbesondere zwei Themenkomplexe besonders erwähnenswert. Opfermann stellt erstens den „Berleburger Zigeunerprozess“ in Siegen (1948–1950) genauer vor, der auf Initiative einiger Sinti und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) angestrengt worden war. Ermittelt wurde gegen 28 Personen (darunter unter anderen gegen Robert Ritter, den ehemaligen Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“), von denen aber nur sieben angeklagt wurden. Diese wurden für die Verfolgung, Verschleppung und Ermordung aus „rassischen“ Gründen von in Berleburg lebenden Sinti verantwortlich gemacht. Für die Ermittlungen wurden über 50 Zeugen befragt, darunter auch Angehörige der Minderheit. Die Angeklagten gaben vor, von der beabsichtigten Vernichtung keine Kenntnis gehabt zu haben, was Staatsanwaltschaft und Gericht jedoch nicht überzeugte. Die Angeklagten wurden schließlich nach dem Strafgesetzbuch und dem Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 in sechs Fällen zu Haftstrafen verurteilt (S. 206–214). Opfermann kommt in der Bewertung des Verfahrens zu dem Ergebnis: „Strafrechtlich, rechtspolitisch und vergangenheitspolitisch blieb der ‚Berleburger Zigeunerprozess‘ ungeachtet der Milde, die am Ende stand, insofern eine bemerkenswerte Episode, als er einer der ganz wenigen Fälle war, in denen ein westdeutsches Gericht Vertreter der lokalen und regionalen Verwaltung wegen ihrer Beteiligung an den Gruppendeportationen an die nazistischen Mordstätten anklagte.“ (S. 214)

Einen enormen Erkenntnissprung ermöglicht zweitens Opfermanns umfassende und ausführliche Betrachtung des sogenannten Sammelverfahrens zum „Zigeunerkomplex“, das zwischen 1958 und 1970 erst bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und dann in Köln geführt wurde (S. 249–412).2 Das Verfahren blieb in der Literatur bislang weitestgehend unbeachtet, obwohl es gegen insgesamt 70 Angehörige der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ (RHF) und zentrale Akteure der Kriminalpolizei geführt wurde. Initiator war der Sinto Heinz Lehmann-Lamary, der beim Frankfurter Magistrat ein Verfahren anregte. Außerdem ist der Sprachwissenschaftler Siegmund A. Wolf zu nennen, der 1958 Anzeige gegen Eva Justin erstattete, die neben Robert Ritter die Arbeit der RHF maßgeblich prägte. Der Frankfurter Oberstaatsanwalt gelangte zu der Einschätzung, dass diese Verfahren ausgeweitet werden sollten; der Sondersachbearbeiter Fritz Thiede wurde mit den Ermittlungen beauftragt. 1960 wurde das Verfahren von Frankfurt nach Köln verlegt, wo Wolfgang Kleinert als Staatsanwalt Thiede ablöste. Trotz des Wechsels in der Verantwortlichkeit setzte sich die Entlastungsstrategie der Staatsanwaltschaft, die schon Thiede in Frankfurt verfolgt hatte, unverändert fort. Kleinert lehnte die Strafverfolgung genozidaler Massenverbrechen ab und entschied in mindestens 25 Fällen auf Verjährung. 1963 legte er den Abschlussbericht seiner Ermittlungen vor. Darin berücksichtigte er die Deportationen vom Mai 1940 ins besetzte Polen, urteilte aber allgemein, dass die NS-Politik keine Vernichtungsabsicht verfolgt habe, die Massenverbrechen in den Ostgebieten durch das Kriegsrecht legitimiert gewesen seien und es für eine planvolle Tötung an Beweisen fehle (S. 323–337, S. 392–406). Von den 70 Beschuldigten wurde schlussendlich nur eine Person angeklagt, aber nicht verurteilt. Opfermann gelangt zu folgender Bewertung: Als „das am weitesten ausgreifende westdeutsche Verfahren zum Holocaust an der Roma-Minderheit“ war es „einzigartig, aber es musste sowohl in seinen strafrechtlichen Ergebnissen als auch durch die mediale Nichtwahrnehmung in jeder Hinsicht alle Beobachter und Handlungsträger in der Minderheit mit ihren Fürsprechern tief enttäuschen“ (S. 412).

Nach dem Ende des Sammelverfahrens gab es bis zum Jahr 2000 weitere 31 Ermittlungen, die abgesehen von zwei Ausnahmen alle eingestellt wurden. Diese zwei Fälle führten zu Hauptverhandlungen; es kam zu einem Freispruch und einer Verurteilung. Die Verurteilung erfolgte im Rahmen des „König-Prozesses“ (1984–1991), der dank des Engagements des Zentralrats und der regionalen Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit erhielt. Der Angeklagte Ernst-August König, früherer Wachmann in Auschwitz-Birkenau, wurde zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, wogegen Revision eingelegt wurde. Bevor der Bundesgerichtshof über die Rechtmäßigkeit entscheiden konnte, nahm König sich das Leben (S. 413f., S. 415–424).

Misslich ist an Ulrich Friedrich Opfermanns Studie, dass sie ihr Potenzial oftmals nicht ausspielt. Beispielhaft wurde dies bereits mit Blick auf das Buchcover erwähnt. Doch der Mangel setzt sich an anderen Stellen fort und ist im Hinblick auf die Aussagekraft der Studie auch gravierender. So thematisiert der Autor zwar die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Verfahren gegen NS-Täter:innen bezüglich der Verfolgung von Sinti und Roma in der DDR und in Österreich (S. 69–72, S. 77–80). Ebenso weist er im Literaturverzeichnis die Kenntnis von entsprechenden Darstellungen der Strafverfolgung in diesen Staaten aus.3 Er stellt die dortigen Einzelermittlungen aber weder vor, noch vergleicht er sie mit seinen Ergebnissen zu den westdeutschen NSG-Verfahren. Insgesamt bedeutet die Studie trotzdem einen massiven Fortschritt zu diesem Thema, und künftig wird kein Forschender an ihr vorbeikommen. Zusätzliche analytische Tiefe und dringend notwendige Vergleiche mit den Strafverfolgungen in anderen europäischen Ländern müssen weitere Arbeiten leisten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Ulrich Friedrich Opfermann, Zum Umgang der deutschen Justiz mit an der Roma-Minderheit begangenen NS-Verbrechen nach 1945. Das Sammelverfahren zum „Zigeunerkomplex“ (1958–1970), Berlin 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/heimat-integration/antiziganismus/opfermann-nsg-verfahren.pdf (10.12.2023); Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA), Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation, Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/30310, 21.05.2021, https://dserver.bundestag.de/btd/19/303/1930310.pdf (10.12.2023).
2 UKA, Perspektivwechsel, S. 69f.
3 U.a. Michaela Baetz / Heike Herzog / Oliver von Mengersen, Die Rezeption des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Eine Dokumentation zur politischen Bildung, Heidelberg 2007, bes. S. 36–53.